Zum Inhalt springen

Jawline – Filmkritik

  • von

“Es ist jetzt zehn Uhr und neun Minuten, und ich bin im Augenblick noch nicht berühmt”, sagt der 16jährige Austyn Tester in die Kamera, während er mit nacktem Oberkörper vor einer Holzwand steht. “Hoffentlich bin ich bald berühmt.”

Im Zeitalter der Sozialen Medien ist es bekanntlich eine reale Möglichkeit, dass ein Teenager aus Tennessee mit der Hilfe von einem Laptop und einem Smartphone aus dem Nichts zur Berühmtheit wird – besonders wenn er so ein hübscher Bursche wie Austyn Tester ist, der wahrscheinlich sogar wirklich die “inspirierenden” Weisheiten glaubt, die er auf einer Streamingplattform von sich gibt und für die er von einer kleinen Gruppen von weiblichen Fans mit Spenden bedacht wird: “Kümmere dich nicht um die Meinungen anderer, Du bist besonders und kannst Deinen Traum erreichen, wenn Du es wirklich willst.”

Dann hat Tester selbst es wohl nicht richtig gewollt: Zwar wird er als aufstrebender Nachwuchs-Internetstar zusammen mit einigen bekannteren Influencern auf Tournee geschickt. Aber eine richtige Karriere wird daraus nicht. Nach einigen Monaten in Los Angeles geht es für ihn zurück nach Hause in die vollgemüllte Holzhütte im Trailerpark, in der er mit seiner Mutter lebt und sich mit seinem Bruder ein Bett teilen muss.


Regisseurin Liza Mandelup hat sich bereits in ihrem Kurzfilm “Fangirl” mit dem Phänomen der Internet-Influencer beschäft. In dem beim Sundance Festival ausgezeichneten Film “Jawline”, der von dem amerikanischen Streamingdienst Hulu ins Programm genommen wurde, vertieft sie sich weiter in das Phänomen. Den Möchtegern-Internetstar Tester konfrontiert sie mit erfolgreichen Influencern wie den Zwillingen Julian and Jovani Jara, die ihre kurze Zeit im Rampenlicht der Sozialen Medien dazu genutzt haben, eine Laufbahn als Djs und Produzenten zu starten.

Denn letztlich sind die Karrieren der hübschen Jungs, die via YouTube, Instagram und Tiktok eine Fangemeinde aufbauen, endlich, wie der Influencer-Manager Michael Weist unmißverständlich klar macht: “Die meisten Influencer haben mit 30 ihren Zenit überschritten.“ Weist betreibt ein Haus in Hollywood, in dem junge Männer wohnen, die zu Influencern aufgebaut werden sollen. (Nach Ende der Dreharbeiten zu “Jawline” erwarb Weist zweifelhafte Berühmtheit, als er mit der amerikanischen YouTuberin Tana Mongeau die katastrophal danebengegangene Influencer-Veranstaltung Tanacon organisierte, die ihn in den Bankrott trieb.) “Das Talent ist im Überfluss vorhanden”, weiß er, und wenn eine Nachwuchshoffnung wie Austyn Tester nicht funktioniert, oder Zicken macht wie sein Protege Bryce, der kein Video drehen will, weil er “es nicht fühlt”, werden sie durch andere Schönlinge ersetzt.

“Jawline” ist nicht der erste Dokumentarfilm, der sich mit dem Phänomen der Influencer auseinandersetzt. “The American Meme” von Bert Marcus konzentrierte sich auf bekannte Internetkreaturen wie DJ Khaled, Brittany Furlan oder Paris Hilton. “100 Millionen Views” nahm das Phänomen mit Humor unter die Lupe.

Aber Liza Mandelup dringt zum Kern des Themas vor, weil sie neben den Stars vor der Handykamera auch diejenigen in den Blick nimmt, ohne die der ganze Zirkus nicht stattfinden würde: die Fans, für die die Influencer „wie große Brüder“ oder „wie eine Familie“ sind. Viele von ihnen sind Außenseiterinnen oder werden in der Schule gemobbt: „Ohne sie würde ich mich ritzen“, vertraut eine von ihnen der Kamera an, während sie Schlange steht, um ein Selfie mit ihrem Idol zu machen.

Testers Fankreis bleibt klein. Nachdem er kurz den Infuencer-Lebensstil ausprobieren durfte, spuckt ihn die Fame-Maschienerie wieder aus – er löst einfach nicht genug „Engagement“ aus, wie Influencer-Manager Weist feststellt: nur zehn Prozent seiner Follower reagieren auf seine Instagram-Posts. Am Ende des Films sieht man, wie in er einen Schulbus steigt, weil seine Mutter dafür gesorgt hat, dass er seine Ausbildung fortsetzt. Ist wohl besser so.

Tilman Baumgärtel

Jawline, Regie: Liza Mandelup
USA 2019
99 min.