Angeschlossen an das Dok Fest Kassel, findet seit 1995 ein Workshop/ eine Praxistagung unter dem Titel “interfiction” statt. Von Freitagabend bis Sonntagvormittag wurden in diesem Jahr Vorträge und Filme zum Thema “*topia” präsentiert. Es durfte also alles von Utopie über “Technotopie” bis Dystopie behandelt werden. In den letzten Jahren sind diese Themen im Zusammenhang mit der Technisierung unserer Gesellschaft sowie dem Klimawandel wieder vermehrt aufgekommen, und so bestand also Redebedarf. In Form von Vorträgen und Gesprächsrunden wurden eine Vielzahl von *topien beschrieben und diskutiert. Zusätzlich dienten zwei Kurzfilmprogramme in Kooperation mit dem Dok Fest als Input.
Am Freitagabend wurde die “interfiction” von Leiterin Verena Kuni zuerst mit dem Thema “Do we need Fiction to create reality” eröffnet. Dazu wurden die Werke “Serious Games I-IV” von Harun Farocki gezeigt. Farocki hat den Einsatz virtueller Realitäten zur Traumabewältigung beim Militär begleitet. Hier werden in Virtuellen Welten traumatisierende Ereignisse in der virtuellen Welt nachgestellt und dabei mit Psychologen besprochen. Die Probanden erinnern sich so deutlich immersiver an die Geschehnisse und geraten so wieder in die gleiche Stresssituation. Im Anschluss daran wurde das Projekt besprochen und diskutiert. Dabei faszinierte zum ersten Mal die Heterogenität der Gruppe und ihre Immersion ins Thema.
Als nächster Programmpunkt folgte im Kino “BaLi” die Kurzfilmzusammenstellung “Maschinenvisonen”. Im ersten Film widmete sich Stefan Panhans den absurden Bewegungsmustern in Videospielen, indem er sie von realen Menschen nachspielen ließ. So sieht man, wie Menschen gegen Wände laufen, in Dialogen völlig verwirrt in die Gegend starren oder vollends verdreht in der Gegend liegen.
Darauf folgte “Geomancer” in dem eine künstliche Intelligenz versucht, künstlerisch tätig zu werden. Der aber beeindruckendste Film kam von Rainer Kohlberger aus Berlin. Der Film beginnt mit feinstem Rauschen, in dem sich nach und nach Strukturen und Bewegungen abzeichnen. So wirklich sicher, was man gerade sieht oder zu sehen meint, ist man sich aber doch nie. Im anschließenden Gespräch erläuterte Kohlberger seinen Prozess und wie er mittels Programmierung einer künstlichen Intelligenz zu diesem Ergebnis kam.
Der nächste Tag begann wieder mit Kurzfilmen im “BaLi”. In “CERN Material Träger 42” begleitete man Jan Peters während seines Künstlerstipendiums im CERN in Genf. Dabei wählte er sein Material auf Basis der Nummerierung des Rohmaterials aus. So entstand ein sehr authentischer Einblick in die Welt des Forschungszentrums. Der Film verschafft einem vor allem einen Einblick in die technische Komplexität und das geordnete Kabelchaos, das zum Kernforschungszentrum dazugehört.
Auch spannend war der Film “Urth”, in dem eine fiktionale Überlebende von ihrem Überleben in einer Biosphäre berichtet. Bebildert wurde der Film mit Aufnahmen aus dem Forschungsprojekt “Biosphere 2” in Arizona.
Nach einer Stärkung mit Kaffee trafen sich die Teilnehmenden wieder in den Räumlichkeiten des offenen Kanal Kassels. Den Einstieg machte die Künstlerin Eleonora Herder, die von ihren Installationen und Projekten berichtete. So hat sie sich mit den Utopie-Vorstellungen des Architekten Ernst May auseinander gesetzt. Dieser sah in effizientem Wohnen eine Möglichkeit für Menschen, mehr Zeit für politische Bildung zu haben. Heute sind seine Hochhäuser oft Sozialwohnungen. So sieht man, wie Utopie und Wirklichkeit schnell auseinander klaffen. In ihren Projekten hat sie dann mit Bewohnern gesprochen, sich ihre Geschichten angehört. In Modellhäusern hat sie diese Geschichten dann zum Leben erweckt. In Wiesbaden hat diese Installation unter den Bewohnern aktiv zu einer besseren und engeren Nachbarschaft geführt. Somit stellte sie damit auch die Frage der Nachhaltigkeit von Kunstprojekten zur Diskussion.
Als nächstes berichtete Diana Wesser über ihre Projekte im Rahmen der Leipziger Stadtteilexpeditionen. Dort ist sie vor allem in der Eisenbahnstraße tätig, der angeblich gefährlichsten Straße Deutschlands. Schön war der “taff” Beitrag den sie dazu herausgesucht hatte, der die Situation – wohl etwas überzeichnet – schilderte. Dass hier aber noch viel Integrationsarbeit geleistet werden muss, wusste sie auch zu berichten. Um hier weiter Brücken zu schlagen, arbeitet sie zusammen mit Reinis Indas an Audiowalks, die helfen sollen mehr Verständnis für ein besseres Miteinander aufzubauen. Im Anschluss wurde über Wege geredet, wie man diese wichtige Arbeit noch weitere Kreise ziehen lassen kann.
In ihrem Beitrag zu FOODtopia beschäftigten sich Katharina Held zusammen mit Jeanne Vogt und Alexandra Waligorski mit der Frage der Ernährung der Stadt von morgen. Dabei zeigten sie zuerst Arbeiten anderer Künstler und deren Umgang mit dem Thema um dann ihre eigenen Planungen vorzustellen und zur Diskussion zu stellen. Dabei kamen viele Ideen und Einwürfe zur Regionalität und der verbindenden Kraft von Essen zu Tage.
Im letzten Vortrag des Tages widmete sich Georg Klein dem Thema Kryptowährungen, die ja vor allem durch den Bitcoin bekannt geworden sind. In seinem Beitrag widmete er sich AltCoins und den Utopie-Versprechungen die Coins wie Ethereum oder Putincoin mit sich bringen. Dann stellte er die Frage, wie man einen eigenen Bitcoin entwickeln kann, mit einer sozialeren Ausrichtung die positiven Seiten der Technologie in den Vordergrund stellt. Im Anschluss wurde über weitere sinnvolle Einsatzmöglichkeiten der Bitcoin debattiert.
Man könnte sagen, die “interfiction” ist so schwer zu fassen wie ihre Beschreibung “Interdisziplinäre Workshop-Tagung”. Unsere ursprüngliche Überlegung war: “Wir schauen da mal vorbei.” Am Ende waren wir zumindest an zwei von drei Tagen bei fast jedem Programmpunkt dabei. Das Besondere an der “interfiction” waren nicht die Vorträge im Einzelnen, sondern das, was daraus entsteht. Die Diskussionen und Gespräche, die in alle Richtungen wandern konnten, dabei aber immer konstruktiv und kreativ blieben. Die Zusammenstellung der Teilnehmer aus Bereichen der Kunst, Informatik, und E-Learning macht diese Veranstaltung so ertragreich. Für jeden Besucher des Dok Fest Festivals eine klare Empfehlung.
Zur Website der „interfiction“:
Wer sehen will, worüber sonst diskutiert wurde, findet hier die abstracts:
Bastian, Henrik